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Die Kraft der Stille: Warum die "Stille Stunde" im Supermarkt so wichtig ist

winterliches Feld im Nebel
Gestern gab es im NDR einen Beitrag über die Stille Stunde in einem Hamburger Supermarkt. Und weil Stille und Ruhe immer wichtiger werden und weil es ein Thema ist, welches häufig Menschen in meine Hypnosepraxis bringen und es auch mich selbst betrifft, wurde es statt eines kleinen Beitrages bei Facebook doch noch ein etwas länger Artikel. 

Ruhe finden, während man auf die Stille hört. Vielleicht gibt es in jedem von uns einen Ort, in dem die Stille ruht. Vielleicht ist dieser Ort in lauten Zeiten schwer zu finden. In Zeiten, in denen Menschen sich anbrüllen, die Autos immer größer werden und die Städte voller. 

Was bedeutet Stille?
Stille bedeutet ruhig, ohne Bewegung, ohne Geräusch. 


"Die größten Ereignisse – das sind nicht unsre lautesten, sondern unsre stillsten Stunden." 
(Friedrich Nietzsche) 


Wir verlieren die Orientierung und damit den Zugang zu unseren eigenen kleinen Räumen der Stille. 

Lautes Telefonieren, hemmungs- und grenzenlose laute Telefonate oder das Abhören von Sprachnachrichten in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Alles muss laut sein. Lautsprecher an. Statt Bremsen lieber Hupen und noch mal Hupen. Rücksicht? Wozu? Dass man auch Filme oder Videos mit Kopfhören auf mobilen Geräten abspielen kann, scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Boomboxen an Fahrrädern und auf SUP-Boards. In den Supermärkten, Aufzügen, Lobbys, Warteschleifen im Hintergrund: Gedudel.

Ein endloses Hintergrundgeräusch


Auf der Seite des Umweltbundesamtes ist zu lesen:

„Eine der zentralen Auswirkungen des Umgebungslärms ist die Lärmbelästigung. Lärm wirkt sich negativ auf die Kommunikation, die Erholung und die Entspannung aus. Aber auch konzentriertes Arbeiten und das psychische Wohlbefinden werden durch Lärm negativ beeinflusst. Diese Beeinträchtigungen tragen wesentlich zur Lärmbelästigung der Betroffenen bei.“

Wie stark sich jeder Einzelne vom Lärm beeinträchtigt fühlt, hängt von der Einstellung ab, die jemand zu der Lärmquelle hat. Autonarren stört der Straßenlärm weniger, obwohl sich etwa 76 % der Befragten durch Straßenlärm in ihrer Umgebung gestört fühlen. Lärmbelästigung durch Fluglärm stört 43 % der Befragten. 

Ich wohne in unmittelbarer Nähe des Hamburger Flughafens in einer 30er Zone. Fluglärm stört mich null, der Lärm, den die Autos verursachen, sehr. Wie laut können Nachbarn die Autotüren zuschlagen? Welcher Nachbar einparkt, das kann ich anhand der Einparkgeräusche der jeweiligen Fahrkünstler erkennen. Wer rührt wie stark im Stand am Lenkrad, um sich in eine Lücke zu manövrieren. Mit dieser Fähigkeit würde ich Wettkönigin werden, gäbe es Wetten, dass…? noch. 


Es zeigt sich immer mehr, dass Lärmbelastung und Belästigung durch Lärm nicht nur die Ohren schädigt, wie beispielsweise das Hören von lauter Musik über Kopfhörer oder das Arbeiten mit lauten Maschinen. 
Lärm stört den Schlaf, kann zu Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes führen. Wer nicht weiß, wieso die Waage kontinuierlich weiter nach oben zeigt, Übergewicht kann mit Schlafmangel zu tun haben. 

Lärm wirkt wie ein Stressor auf den gesamten menschlichen Organismus und der tut, wofür er von der Evolution her bestens ausgestattet ist. Das vegetative Nervensystem schüttet die Stresshormone Cortisol und Adrenalin aus, der ganze Organismus wird unwillkürlich, also ohne dass er bewusst beeinflussbar ist, auf archaische Reaktionen vorbereitet, die ein Überleben sichern sollen. Der Organismus wird scharfgeschaltet und in Kampfbereitschaft versetzt. 
Selbst (scheinbar) schlafend nehmen Menschen den Umgebungslärm auf. Die Folgen sind Schlafstörungen und Aufwachreaktionen, Abgeschlagenheit, Gehörschädigungen, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf, Krankheiten, Konzentrationsstörungen, weniger Leistungsvermögen. Das kann sogar in eine soziale Isolierung führen. 

Die WHO hält Lärm als eine der größten Umweltgefahren für das körperliche und geistige Wohlergehen in der europäischen Region. 
Wie empfindsam wir darüber hinaus auf Lärm reagieren, hängt zusätzlich von unseren ganz individuellen Dispositionen ab.

Die Krux mit dem feinen Gehör 

Ein relativ gutes Gehör, eine gewisse Sensibilität auf und für Geräusche hat uns als Menschheit das Überleben gesichert. Wir mussten schnell das Rascheln im Unterholz zuordnen können. Streicht leise und sanft flüsternd der Wind durch die Gräser oder streift ein Raubtier auf der Suche nach leichter Beute durch die Savanne. 
Ein leichter Schlaf hat uns auf unsere Nachkommen achten lassen, sodass wir selbst schlafend mit einem Ohr die Umgebung akustisch beobachten können. Verantwortlich dafür ist die Amygdala. Eine Region im Hirn. Tief im Schläfenlappen springt sie unter anderem bei Angst an und flutet über die Hypophysen-Nebennieren-Achse das Blut mit Cortisol und macht uns wachsam.


So beruhigend und wohltuend das Brausen des Meeres sein kann, so belastend wirkt das stetige Tosen und Brausen der Großstadt. 

Wir sprechen von Häusermeer und Straßenschluchten, einer grünen Welle oder Verkehrsflut. Von fließendem Verkehr. All das sind Schallwellen.

Steckt da eine Sehnsucht nach Ruhe und Natur in dieser Beschreibung? Die Hoffnung, dass, wenn es schön klingt, es sich gut anhören möge? Etwas Wohltuendes und Beruhigendes im steten Lärm finden?

Der Wunsch nach Ruhe ist nicht neu.

1908 gründete Theodor Lessing, Privatdozent an der Technischen Hochschule Hannover und Kulturphilosoph, den Deutschen Lärmschutzverband. Es galt, das Recht auf Stille als bürgerliches Menschenrecht durchzusetzen. 

Selbstverständlich gab es neben zahlreichen Unterstützern wie den berühmten Schriftsteller und Lyriker Hugo von Hofmannsthal auch zahlreiche Gegner. Diese Gegner sahen in Lessing einen übersensiblen Fanatiker. Man unterstellte Verweichlichung und dass man mit etwas guten Willen und Kraft den Lärm schon ertragen können. 
Von Hofmannsthal, Mitbegründer der Salzburger Festspiele galt als hypersensibel. 

Der Wunsch und die Sehnsucht der Menschen, die unter dem Lärm der Städte leiden, führte in die etwa 1900 „erfundene“ Sommerfrische. 

Reizüberflutung, Beschleunigung, Lärm. Eine überreizte Gesellschaft auf der Suche nach Stille. 

Neurasthenie, eine Ende des 19 Jh. nach einem Buch des amerikanischen Neurologen George M Beard benannte „Volkskrankheit“ erhielt Beachtung. Eine sogenannte Befindlichkeitsstörung oder reizbare Schwäche. 

Nervosität wurde Krankheit und Modeerscheinung. Man galt gerne als viel beschäftigt. Heute werden eher Depressionen oder Burn-out diagnostiziert. Und bedauerlicherweise möchten auch heute noch die beschäftigten Manager lieber einen Burn-out diagnostiziert bekommen als eine Depression. Das ändert sich. Langsam, aber es ändert sich. 


Man muß aus der Stille kommen, um etwas Gedeihliches zu schaffen. Nur in der Stille wächst dergleichen.“
„Es gibt vielerlei Lärme. Aber es gibt nur eine Stille.“ 
(Kurt Tucholsky)



Ein in Sicherheit durchgeführter sensorischer Reizentzug beim sogenannten Floating senkt den Adrenalin und Cortisolspiegel und den Blutdruck und hebt dafür das Wohlbefinden. In einem Floating Tank kontrolliert durchgeführter Reizentzug soll bei generalisierten Angst und Panikstörungen, bei diversen Phobien und sogar bei posttraumatischer Belastungsstörung die Schmerzen nehmen und die Glücksgefühle steigern.


Versuche an Mäusen zeigen, dass Neuronen wachsen, wenn die Mäuse über mehrere Tage für jeweils zwei Stunden pro Tag von jeglichen Geräuschen ferngehalten wurden. 


Wir Menschen brauchen akustische Auszeiten. Lärm erschöpft uns und ermüdet das Gehirn. 


Und manche Menschen ermüdet Lärm noch schneller. Was ist mit all den Menschen, deren Hirne einfach nur etwas anders „verdrahtet“ sind als bei den Neurotypischen, den „Normalen“? 

Wie gehen all die Menschen mit Lärm um, bei denen neurologische Unterschiede bestehen? Den Neurodivergenten Menschen? 

Das sind Menschen mit AD(H)S, Menschen in einem autistischen Spektrum, Menschen mit Zwangerleben, mit Dyskalkulie und und und …

Etwas am Rande der neurodivergenten Menschen stehen die hochsensiblen Menschen. Hochsensible Menschen können schnell reizüberflutet sein. Besonders bei den sensorischen Reizen würde ich den Kreis der neurodivergenten Menschen um Hochsensible erweitern. 
Wenn wir hier Neurodivergenz als alles, was von der Norm abweicht, zähle ich auch die Misophonie zu den Neurodivergenzen. Die Misophonie ist bisher noch immer nicht als Krankheit definiert und somit keinem offiziellen Diagnosesystem zugeordnet. 


Nun ist natürlich nicht jeder oder jede, die mir dem ein oder anderen Extra ausgestattet ist, gleich dies oder das, es gibt allerdings deutlich beobachtbare Überschneidungen. In meiner Praxis ist mir aufgefallen, dass gerade Frauen mit misophonischem Erleben auch eine kleine Drehung in Richtung AD(H)S aufweisen und/oder in Richtung der HSP, also der Hochsensiblen. Wieso sich auch nicht mal etwas gönnen und aus dem Vollen schöpfen. 

Es sind also empfindsame Menschen, denen die Stadt, die Menschen, das Leben häufig einfach zu laut ist und das nicht erst seit neustem. Wie brutal ist es zu sagen, dass man sich bloß zusammenreißen soll und das es das „früher“ auch nicht gab. Dass das Unfug ist, habe ich eingangs schon erwähnt. 

Und nun gibt es immer mehr Supermärkte, die eine sogenannte „Stille Stunde“ einführen. Mir ist das erste Mal 2021 auf Twitter das Foto eines Supermarktes in Esslingen aufgefallen, der eine stille Stunde anbot. Und es werden immer mehr. 
Weil wir merken, wie wichtig etwas Ruhe in einer lauten Welt ist. 

Und nur drei Jahre später ist diese großartige und wertschätzende Idee auch zu immerhin zwei Supermärkten in Hamburg angekommen. 
Mögen es immer mehr werden.


Bist Du auch eher sensibel, was Geräusche betrifft? Allgemein oder grundsätzlich? Was hältst Du von den "stillen Stunden"? Gerne mehr oder ist Dir das eher wurscht? 
Ich freue mich, von Dir zu lesen oder zu hören! Trage Dich auch für meinen hypnotischen Newsletter ein, sodass Du auf dem Laufenden bleibst.



März 19, 2024

Susanna Pursche • März 19, 2024
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